Im Ukraine-Konflikt fehlt Polen unsere Solidarität

Ausgerechnet im Jubiläumsjahr des Mauerfalls verweigert Deutschland dem Ukraine-Anrainer Polen echten Beistand. Dabei haben unsere Nachbarn in den Wendejahren auch zu unserem Glück beigetragen.

 

 

Wenn selbst ernannte Musterschüler ihre Aussetzer haben, wird es meist besonders bizarr – dann geht es von einem Extrem ins andere. Derlei lässt sich gerade im Falle der deutschen Außenpolitik studieren, welche doch ansonsten immer mit allen so gut Freund sein möchte.

 

Was auch für weite, parteiübergreifende Teile der deutschen Öffentlichkeit gilt, hat sich diese doch über die Jahrzehnte hinweg ebenso narzisstisch wie larmoyant-schuldbewusst gefragt, was wohl "das Ausland" so alles über uns denke.

 

Nun, im Falle Polens scheint das gegenwärtig den meisten Beteiligten eher schnurz zu sein. Trotz Weimarer Dreieck, der deutsch-französisch-polnischen Außenministerbegegnungen, trotz geplanter Nato-Manöver im Nachbarland.

 

Man tut, was man als Minimum halt tun muss angesichts der von Russland vom Zaun gebrochenen Ukraine-Krise, und versichert den von der dortigen Instabilität direkt betroffenen Polen seine Bündnissolidarität.

 

Wir verhandeln lieber direkt mit Moskau

 

Doch mit welch unterdrücktem Seufzen und mit welcher Empathielosigkeit, die sich häufig selbst demaskiert: Denn ob nun in Talkshows bei den üblichen "Experten"-Einlassungen, in gutbürgerlichen Salons, in Wirtschaftskreisen oder linksalternativen Veganerrestaurants – der angeblich bäuerisch renitente Pole ist längst als Stereotyp wieder auferstanden.

 

"Natürlich" nehme man die Sorgen dieser Polen ernst, heißt es huldvoll-herablassend von den mentalen Nachfahren jener Kabinettspolitiker, die über die Jahrhunderte hinweg genau dies eben nicht taten und lieber von gleich zu gleich verhandelten, zwischen deutscher und russischer Großmacht.

 

Die Selbstverständlichkeit, mit der jetzt erneut allein "unser" Verhältnis zu Moskau diskutierend hin und her gewendet wird, ohne auch nur einmal die polnischen Traumata einer mehrfach zwangsgeteilten Nation zu reflektieren, ist bestenfalls geschichtsvergessen, vor allem aber wohl: zutiefst widerlich.

Denn unbestrittene Tatsache ist doch – und gerade 25 Jahre nach dem Mauerfall sollte daran erinnert sein –, dass die deutsche Einheit auch jenen Polen zu verdanken ist, die in den 80er-Jahren nicht nur gegen sowjetrussische Dominanz, sondern "für eure und unsere Freiheit" in todesmutige Streiks getreten waren, von der Danziger Lenin-Werft bis zu den Metallkombinaten von Nowa Huta.

 

Helmut Schmidt lag wieder mal daneben

 

Freilich waren diese Solidarnosc-Aktivisten bereits damals von der Solidarität des deutschen Mainstreams ausgeschlossen. Der heutige Putin-Versteher Helmut Schmidt nannte den Jaruzelski-Putsch "notwendig", Graf Lambsdorff störte sich im Namen der deutschen Wirtschaft an der polnischen Streikbereitschaft, und der poetische Feingeist Peter Rühmkorf gab sogar den wiedergeborenen Nazi-Feldwebel.

 

Rühmkorf dekretierte: "Mehr als Arbeit und Disziplin verschreiben kann der polnischen Nation ohnehin kein Mensch auf der Welt." Ganz ähnlich Egon Bahr, der damals – und dies ausgerechnet auf den Seiten der einstigen emanzipatorischen Arbeiterzeitschrift "Vorwärts" – sein "Der Frieden ist wichtiger als Polen" herausschnarrte.

 

Dass die polnischen Arbeiter, Intellektuellen und Priester (deren Präsenz ein weiteres Manko bedeutete in deutschen Spießeraugen) damals weder auf Bonn hörten noch vor Moskau und den einheimischen Partei- und Armeeschergen einknickten: Es ist just dieser unglaubliche Mut, von welchem schließlich auch "wir" profitieren durften.

 

Allerdings hat das – trotz aller Aufarbeitungsgeißelei – so seltsam amnesische Deutschland dafür bis heute nie wirklich Danke gesagt. Anders als mit diesem Mangel an Erinnerungsanstand lässt sich nämlich kaum erklären, weshalb die polnischen Existenzsorgen in der gegenwärtigen Debatte entweder keine Rolle spielen oder hurtig abgetan werden als russophobe Ressentiments randeuropäischer Kamikaze-Romantiker.

 

Polen weiß, wie man Ausgleich herstellt

 

Bereits die simple Verlegung von Awacs-Aufklärungsflugzeugen hatte weit hinaus über die üblichen Linksparteikreise für Stirnrunzeln gesorgt – ganz im Sinne jenes kaltschnäuzigen Wohlfühlpazifismus, der sich gestern wie heute doch nicht "von denen im Osten" die westeuropäische Ökobiedermeierlichkeit gefährden lassen möchte. Muss man sich ins Tohuwabohu russisch-ukrainisch-polnischer Nationalismen tatsächlich einmischen?

Was hierzulande nicht einmal ansatzweise gewürdigt wurde: Als 1989 der Ostblock zusammenbrach, einigten sich Polen, die Ukraine und Litauen sofort auf die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen, auf das Nichtaufrechnen all der Wunden, die man sich über die Jahrhunderte hinweg gegenseitig geschlagen hatte. Nun wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen: für eure und unsere Sicherheit.

 

Es lässt tief blicken, dass der geistige Architekt dieser bis heute erfolgreichen Aussöhnung im Westen kaum bekannt ist: Es war der litauisch-polnische Gentleman Jerzy Giedroyc, Herausgeber der in einem Pariser Vorort ansässigen Exilzeitschrift "Kultura", der bereits in den 80er-Jahren die zukünftige Intellektuellenelite jener Länder erfolgreich auf Ressentimentverzicht eingestimmt hatte.

 

Wer Ende der 90er-Jahre das Glück hatte, den hellwachen Greis noch kennenzulernen in seiner global vernetzten Denkerklause, erfuhr hier eine success story, die in Deutschland noch immer ignoriert wird.

 

In Warschau sitzen große Europäer

 

Als kurz darauf die Kaczynski-Zwillinge dann doch noch einmal die Karte der altbackenen Nationalismen spielten, dauerte der Spuk gar nicht lang, und das demokratisch reife und wirtschaftlich prosperierende Polen wählte den Alb mühelos ab.

 

Der gegenwärtige liberale Premier Donald Tusk und sein polyglotter Außenminister Radek Sikorski (als antikommunistisch sozialisierte Solidarnosc-Anhänger selbstverständlich auch frühe "Kultura"-Leser) übertreiben also keineswegs, noch spielen sie mit dem Feuer, wenn sie für ihr Land, aber auch für die baltischen Staaten eine robuste Nato-Präsenz erbitten.

 

Denn sollte der Westen die staatliche Souveränität der Ukraine weiterhin von Putins Schergen zerfetzen lassen, würde die alte Willkür- und Rachetradition rasch zurückkehren vor die eigene Haustür.

 

Auch wenn es die hiesigen Abwiegler und Beschwichtiger noch nicht begriffen haben: Die konsequentesten und gleichzeitig rationalsten Europaverfechter finden sich zur Zeit in Warschau. Gerade sie verdienen unsere Solidarität.

 

 

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