Brief von Herrn Botschafter Jerzy Margański an den Chefredakteur der „Welt“

Vollständiger Wortlaut des Briefes von Botschafter Jerzy Margański an den Chefredakteur der "Welt" zum Artikel von J.T. Gross vom 14. September 2015. Der Brief ist am 17. September in der „Welt“ mit einigen Kürzungen erschienen. Nachstehend finden Sie den vollständigen Text.
 

 

 

 

 

 

Herrn

Jan-Eric Peters

Chefredakteur

Die Welt

 

 

 

 

 

Sehr geehrter Herr Peters,

 

 

Mit großer Verwunderung habe ich in der Welt vom 14. September in der Rubrik „Meinung“ einen Artikel vom Jan T. Gross gelesen, in dem der Autor die Haltung der ostmitteleuropäischen Staaten, darunter auch Polen, zur Aufnahme von Flüchtlingen von ihrem Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg ableitet.

 

Wenn man die Thesen von Gross liest, verschlägt es einem die Sprache. So behauptet der Autor z.B., die Polen hätten während des Krieges mehr Juden getötet als Deutsche. Dies wird ohne Kommentar oder Gegenstimme seitens der Redaktion der Welt stehengelassen, so dass viele Leser sich wohl fragen werden, ob da die Geschichte nicht doch neugeschrieben wird. Dass ein Historiker, der wissen muss, dass die Debatte über das Verhältnis zum Judentum in Polen seit Jahren so intensiv, wie in kaum einem anderen Land der Region geführt wird, und der ja über die umfangreiche Literatur, über die Filme und Theaterstücke, die sich diesem Thema widmen, Bescheid wissen muss, nun sagt, all das gebe es einfach nicht, kann nur verwundern. Noch verwunderlicher und verletzender sind die Schlussfolgerungen, die er daraus bezüglich des Standpunkts Polens zur Flüchtlingsfrage zieht. 

 

Wichtig sind in diesem Zusammenhang ein paar Fakten, die in dem Artikel von J.T. Gross entweder irrig oder gar nicht erwähnt werden. Polen hat sich vor einigen Wochen bereit erklärt, 2.000 Flüchtlinge - ohne Rücksicht auf ihre Konfession - aufzunehmen. Das war eine Antwort u.a. auf den Plan der Europäischen Kommission, der vorsah, dass Polen 2.659 und beispielsweise Deutschland 8.763 Migranten akzeptiert. Mittlerweile hat der Zustrom der Flüchtlinge dramatisch zugenommen, und Polen ist bereit, diese Quote deutlich zu erhöhen. Aus unserer Sicht ist aber auch wichtig, dass die EU die Kontrolle über die Migrationsströme zurückgewinnt, dass sie ihre Außengrenzen besser schützt, die politischen von Wirtschaftsflüchtlingen trennt und den Sicherheitsrisiken entgegentritt, die diese enorme Migrationswelle auch in sich birgt.

 

Wir brauchen Solidarität, aber wir brauchen auch Vernunft, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Dafür müssen wir die Politik und die Gesellschaft gewinnen. In Polen findet darüber, wie in vielen europäischen Ländern, eine intensive Debatte statt. Die polnische katholische Kirche hat die Pfarrgemeinden aufgerufen, sich auf die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge vorzubereiten. Über die Hälfte der Bevölkerung ist der Meinung, wir sollten das tun. Es gibt immer mehr Bürgerinitiativen, die sich dieser Aufgabe widmen. Dies geschieht, obwohl es für ein Land, das - anders als viele westeuropäische Länder – noch nicht über eine langjährige Einwanderungstradition verfügt, keine leichte Aufgabe ist. Schließlich waren die Staaten des Ostblocks nicht das Ziel, sondern vielmehr die Quelle von Migration. In Deutschland, Frankreich oder Österreich, wo die muslimische Einwanderung eine jahrzehntelange Geschichte hat und der Islam, wenn auch nicht ohne manchmal dramatische innenpolitische Verwerfungen, mittlerweile zu einem Teil des kulturellen und politischen Alltags geworden ist, fällt das vielleicht leichter.

 

Dennoch erreicht die Einwanderung auch Polen. Das Land hat bereits vor einigen Jahren 90.000 Flüchtlinge aus Tschetschenien aufgenommen. In Polen leben auch einige hunderttausend Ukrainer, für die das Nachbarland eine immer attraktivere Destination geworden ist und die sich in Polen erfolgreich integrieren.

 

Das alles muss der Historiker J.T. Gross wissen. Er verlangt mehr Solidarität und Offenheit gegenüber den Flüchtlingen und prangert zu Recht die ausländerfeindlichen Sprüche an, wie sie (nicht nur in Polen) in den Postings im Netz erscheinen. Darin kann man ihn nur unterstützen. Schade nur, dass seine Diagnose so wenig dazu beiträgt, die Probleme zu verstehen und zu lösen.

Wir möchten hoffen, dass Welt-Redaktion bei einer solch wichtigen Angelegenheit wie der Flüchtlingsfrage vielleicht neben derart kontroversen Meinungen auch Stimmen aus Polen selbst zu Wort kommen lässt, die helfen können, den Standpunkt des Landes besser zu verstehen ,und damit zu einer gemeinsamen europäischen Lösung beitragen.

 

 

 

Mit Freundlichen Grüβen

 

Jerzy Margański

 

Quelle