Feierliche Verleihung der Ehrenmedaille „Bene Merito“ an Markus Krzoska

In Würdigung seiner Verdienste um polnische Belange und die Vertiefung der deutsch-polnischen Beziehungen auf dem Gebiet der Kultur wurde Markus Krzoska am 16. September dieses Jahres mit der Ehrenmedaille „Bene Merito“ ausgezeichnet. Die Laudatio auf ihn hielt Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz vom Willy-Brandt-Zentrum für deutsche und europäische Studien der Universität Breslau.
 

Dr. hab. Markus Krzoska ist ein namhafter deutscher Historiker der jüngeren Generation, der seit vielen Jahren Debatten über Polen und das deutsch-polnische Verhältnis initiiert und moderiert. Ein Element seiner Arbeit für die Vertiefung der deutsch-polnischen Kontakte und die Vermittlung von Wissen über Polen war die Mailingliste „polhist“, die er über 20 Jahre lang betreute und die für viele, die sich mit polnischen Fragen und den deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigen, der erste Wegweiser in ihren Interessen war. In Zusammenarbeit mit Prof. Werner Weidenfeld verwirklichte er ein Projekt zu Polen und der deutschen Vereinigung 1989/90.

 

Dr. habil. Markus Krzoska war auch an wichtigen Forschungsprojekten beteiligt und ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter einer zur polnischen Kulturgeschichte nach 1945, der ersten dieser Art auf dem deutschen Buchmarkt. Er war auch einer der Bearbeiter der „Bibliographie zu den deutsch-polnischen Beziehungen“, eines vierbändigen Werkes, das der erste Wegweiser zur einschlägigen Literatur seit dem 19. Jahrhundert war und bis heute auf diesem Gebiet seinesgleichen sucht. Ebenso bemerkenswert war Markus Krzoskas Dissertation (2001) über „Zygmunt Wojciechowski (1900-1955) als Historiker und Publizist“, die erste Biographie eines jener führenden polnischen Wissenschaftler, die sich mit der Problematik der Westgebiete beschäftigten, und Begründers des Westinstituts in Posen.

 

Derzeit verwirklicht Markus Krzoska ein Forschungsprojekt über den „Nationalpark in Białowieża“.

 

 

 

Markus Krzoska

 

Dankesrede anlässlich der Verdienstmedaille „Bene Merito“ des Außenministers der Republik Polen, Berlin, den 16.9.2015

 

Sehr geehrter Herr Botschafter, lieber Krzysztof, liebe Freunde,

 

eine solche Ehrung, wie sie mir heute hier zuteil geworden ist, bietet ganz zwangsläufig einen Anlass zurückzublicken auf Jahrzehnte, die wie im Fluge vergangen sind. Die Frage nach dem, was von einem Leben bleibt, hat die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt. Der Wunsch, nicht umsonst gelebt zu haben, ist uns wohl allen schon einmal begegnet. Oftmals verbindet er sich fast tagesaktuell mit der Sinnfrage. Im besten Fall schaffen wir uns einen solchen Sinn: sei es in den eigenen Nachkommen, sei es in Erinnerungsorten anderer Art. Die Wahrheit ist aber auch, dass in den meisten Fällen das Wissen von einem Menschen nach etwa vier Generationen verschwindet. „Später, später bleibt vom Wagen / Nicht einmal die Wagenspur / Niemand, niemand wird dann fragen / Wer in diesem Wagen fuhr“, schrieb der Textdichter Robert Gilbert 1957 in dem Chanson „Auf der Mundharmonika“ für das Musical „Katharina Knie“. Die Musik dazu schrieb übrigens der aus Białystok stammende Komponisten Mischa Spoliansky.

Wie oft verzweifeln deshalb gerade Historiker an ihrem Quellenmaterial, weil es doch so wenig über die Persönlichkeit aussagt, mit der man sich gerade beschäftigt. Soll man sich also dieser Aporie fügen? Nein, ich denke, es ist gut, Bernstein aus dem Meer des Vergessens zu bergen und ihn aufzubewahren für Spätere. Damit ist nicht der Anspruch verbunden, es handle sich um etwas ganz Besonderes, Einzigartiges, von dem andere unbedingt wissen müssen. Es geht auch nicht um Lerneffekte oder Aha-Erlebnisse, sondern um die Möglichkeit, durch die scheinbar ungeordnete Wiedergabe von Bewusstem und Unbewusstem aus diesen Bruchstücken etwas Neues zusammenzusetzen.

Ich werde also in meinen kurzen Dankesworten nicht versuchen, einen Sinn der Abläufe meines bisherigen Lebens unter besonderer Berücksichtigung Polens zu konstruieren, denn wissen wir nicht alle insgeheim, dass unsere Biographien vor allem vom Schicksal, Zufällen oder anderen nicht begreifbaren Faktoren geprägt sind?

In den über 25 Jahren, in denen ich mich nun schon intensiv mit Polen beschäftige, habe ich viele Menschen kennenlernt, einige Dinge über das Land erfahren, es in Maßen bereist, mich in seine Literatur vertieft und seine Historiker gelesen. Mein Ziel war immer – man traut sich heute ja kaum noch, so etwas zu sagen –, mir noch mehr an Wissen anzueignen und dieses dann möglicherweise an andere weiterzugeben. Dabei will ich nicht verhehlen, dass mein Impuls in Bezug auf Polen ein durchaus moralischer war. Ein positives Bild dieses Landes in schwierigen Zeiten zu verbreiten, ohne Fehler und Probleme zu verschweigen, habe ich immer als meine Aufgabe angesehen. An der einen Stelle ist dies mehr geglückt, an der anderen weniger. Am wohlsten habe ich mich dabei immer gefühlt, wenn ich in einem gut funktionierenden Team arbeiten konnte: im Deutschen Polen-Institut, in den Anfangsjahren der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Mainz-Wiesbaden oder in der Gießener Osteuropäischen Geschichte.

Ich möchte nun ganz im Sinne meiner Vorrede nicht einzelnen Personen danken, sondern scheinbar wahllos fünf Bernsteinsplitter aus meinem Leben herausgreifen, die mit Polen zu tun haben. Fünf Splitter für fünf Menschen, die nicht mehr unter uns sind. Keiner von ihnen hat mich über lange Zeit begleitet oder gar geprägt. Aber ist es Zufall, dass ich gerade sie erwähne? Scheinbar haben sie mich also irgendwie beeinflusst. Vielleicht ergibt sich in der Summe ja so etwas wie ein Bild, und wenn nicht, so sind diese Menschen doch für einen kurzen Moment dem Reich des Vergessens entrissen, ist ihre Wagenspur so wieder sichtbar, wie Archäologen mit dem Pinsel Fährten längst vergangener Zeiten freilegen. Wohlan denn!

 

1.) Gotthold Rhode (1916-1990)

Als ich 1986 zu studieren anfing, war mir die wissenschaftliche Welt der Historiker völlig fremd. Meine Entscheidung für die Universität Mainz war mit der Nähe zum heimatlichen Darmstadt verbunden. Es hätten auch Frankfurt oder Heidelberg sein können, doch ich richtete mich nach dem einzigen Namen, den ich in den dickleibigen Universitätsverzeichnissen kannte, vermutlich aus den unzähligen Artikeln und Leserbriefen, die dieser ältere Mainzer Professor für die FAZ verfasst hatte. Bald musste ich aber feststellen, dass Gotthold Rhode inzwischen emeritiert und durch einen lustigen Kollegen ersetzt worden war und seine Hauptseminare, die er noch anbot, für den Studienanfänger nicht besuchbar waren. Ich hatte damals mit Polen nichts am Hut und stieß erst wieder auf Rhode, als ich im Wintersemester 1988/1989 das Mainzer Polonicum absolvierte. Warum ich das tat, wäre wieder eine andere Geschichte, jedenfalls hielt Rhode im Rahmen der landeskundlichen Vorträge zwei endlose, nicht besonders spannende Vorlesungen über die polnische Geschichte. Ich wusste damals nichts über ihn, nicht über seine Biographie eines evangelischen Deutschen in Polen, seine Rolle im Marburger Herder-Institut oder gar in einer mir völlig unbekannten „Kommission für das Deutschtum in Posen und Mittelpolen“, die ich 15 Jahre später mit anderem Namen als Vorsitzender übernehmen sollte. Irgendwie machte er aber Eindruck auf mich und ich besuchte dann bei diesem harten und sich stets hierarchisch von den Studenten distanzierenden Mann eine Quellenübung zur Entstehung des polnischen Staates. Und dort erlebte ich einen ganz anderen Rhode, der immer auf und ab gehend voller Begeisterung über das 10. Jahrhundert dozierte, von seinem verehrten Kollegen Gerard Labuda sprach und der mich neugierig machte auf dieses so fremde Land. Rhode konnte die Veranstaltung nicht mehr zu Ende führen. Schon seit dem Sommer schwer an Leukämie erkrankt, wovon wir nichts wussten, weil er es mit eiserner Selbstdisziplin verbarg, starb er Anfang 1989. Was glaube ich von ihm gelernt zu haben? Die Begeisterung für ein Land, die bei ihm sicherlich viel stärker gebrochen war als sie es bei mir heute ist.

 

2.) Halina Całka (1909-2003)

Wenn es eine polnische Stadt gibt, die historisch betrachtet für einen gewissen Antagonismus in den deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen steht, dann ist es Poznań. Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung prallten in der Zwischenkriegszeit und in den Jahren des nationalkommunistischen Polens hier besonders aufeinander. Natürlich musste es deshalb noch vor zwanzig Jahren als ein besonderer Frevel erscheinen, wenn ein deutscher Historiker eine Biographie des größten Säulenheiligen der polnischen Westforschung, Zygmunt Wojciechowski, verfasst. Interessanterweise bin ich vergleichsweise selten auf offene Proteste gestoßen. Schon eher auf passiven Widerstand, um mir den Zugang zu den Quellen zu verweigern, wie ich es im Instytut Zachodni und im Archiv des PTPN erlebt habe. Ich hatte gar nicht die Absicht, den heiligen Sigismund vom Sockel zu stoßen, mir ging es damals schlicht um die historische Wahrheit. Man könnte auch sagen: ich war jung und naiv. Einige wenige Menschen vor Ort unterstützten mich aber auch, obwohl das nicht selbstverständlich war. Ich weiß nicht mehr, wie genau ich damals Halina Całka kennenlernte. Eine damals schon 85-jährige, lebhafte alte Dame mit grauem Lockenkopf. Ihren Mann Leon, einen nationaldemokratischen Ökonom und Widerstandskämpfer hatten die Deutschen im Krieg umgebracht. Sie musste sich mit ihrer kleinen Tochter irgendwie durchschlagen und fand nach 1945 die Unterstützung der überlebenden Kämpfer der „Ojczyzna“-Gruppe. Unter ihnen war Zygmunt Wojciechowski, dessen rechte Hand bei der Verwaltung des neuen West-Instituts sie wurde. Über ihn verlor sie kein böses Wort. Sicher hatte sie ihn damals angehimmelt, gerüchteweise auch mehr als das. Halina Całka war neugierig auf meine Arbeit. Auch wenn sie im Institut selbst keinen Einfluss mehr hatte, vermittelte sie doch den Kontakt zu zwei Weggefährten von einst, darunter zu Karol Marian Pospiechalski, einem Juristen und frühen Aufspürer von NS-Verbrechern. Ich muss gestehen, dass ich diese Kontakte damals zu wenig nutzte, aber immerhin. Pani Halina fuhr regelmäßig nach Deutschland und besuchte mich sogar einmal in Darmstadt. Ich weiß nicht, ob sie den Deutschen verzeihen konnte, dass sie ihren Mann umgebracht hatten, aber diese entschlossene Frau lebte nicht in der Vergangenheit, sondern war an den Tagesabläufen interessiert. Sie hat mein Bild von Polen dieser Generation entscheidend mitgeprägt, vielleicht weil sie eben keine Wissenschaftlerin war.

 

3.) Karla Postrach-Rast (1930-2010)

Karla war das Gegenteil von dem, was man eine liebenswerte alte Dame nennen würde. Unvorstellbar, sie hätte mit einem schicken Hut im Konzert gesessen und Brahms gelauscht. Sie kam mitten aus dem Leben. Und dieses war nicht immer leicht gewesen. Geboren und aufgewachsen in Breslau-Carlowitz floh sie mit ihren Eltern im Winter 1945 aus der belagerten Stadt. Über Umwege kam sie nach Hessen, wo sie u.a. als Buchhalterin für eine Supermarktkette arbeitete. Ich lernte sie Mitte der 1990er Jahre in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Mainz kennen, denn Karla hatte sich nach der politischen Wende von 1989 zur Aufgabe gemacht, zur deutsch-polnischen Versöhnung beizutragen und die Brücken nach Wrocław wiederherzustellen. Zu diesem Zweck begann sie Polnisch zu lernen und reiste, sooft es ihre schmale Rente erlaubte, nach Niederschlesien. Sie lernte dort junge Polen kennen und freundete sich mit diesen an. „Wenn ich auf dem Breslauer Ring sitze“, sagte sie immer, dann bin ich wieder zu Hause. Jestem w domu.“ Sie besuchte die Stätten ihrer Kindheit, fuhr gerne ins Riesengebirge und diskutierte. Zu stoppen war sie dabei schwer. Intellektueller Kram ließ sie völlig kalt, sie wollte die einfachen Menschen zusammenbringen. Und wie stolz war sie, als 2008 ein fünfzehnminütiger Film über sie gedreht wurde: „Jestem Karla z Breslau“. Ich glaube, auf ihre alten Tage hatte sie den eigentlichen Sinn ihres Lebens gefunden. Die stolze Kettenraucherin ließ sich auch von einem Herzinfarkt nicht stoppen, doch sie war nicht Helmut Schmidt und so starb sie kurz vor ihrem 80. Geburtstag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, als sie vor ihrer Wohnung aus dem Auto stieg. Von Karla habe ich gelernt, dass man nie zu alt ist, um etwas Neues zu beginnen. Sie war eine echte Pionierin deutsch-polnischer Verständigung, ohne Pathos und Versöhnungskitsch.

 

4.) Janusz Korbel (1946-2015)

Polnische Mythen gibt es viele. Der sogenannte Urwald von Białowieża ist ein besonders wirkmächtiger von ihnen. Ihn für die nächsten Generationen zu bewahren, war seit jeher eine diffizile Aufgabe, wirkten doch seit dem Mittelalter vielfältige Interessen auf ihn ein, von denen die wirtschaftlichen die gefährlichsten waren, sei es unter Antoni Tyzenhaus, dem ehrgeizigen Wirtschaftsberater des letzten polnischen Königs, den zarischen Forstexperten, deutschen Kolonialherren im Ersten und Zweiten Weltkrieg, britischen und polnischen Kapitalisten der Zwischenkriegszeit bis hin zu Tourismusplanern der Gegenwart. Als ich im Frühsommer 2014 zum ersten Mal nach Białowieża kam, hatte ich eine Liste mit Namen von Personen, die ich dort unbedingt treffen sollte. Es sollte sich sehr schnell herausstellen, dass der beeindruckendste von ihnen ein nicht mehr ganz junger Ingenieur und Umweltschützer war. Janusz Korbel, gebürtiger Oberschlesier, hatte einen großen Teil seines Lebens in Podlachien verbracht. Nun lebte er in einem ziemlich kleinen Holzhaus, in dem die Zeit still zu stehen schien. Sanft, aber entschlossen, wie er es in den späten 1970er Jahren im Zen-Buddhismus gelernt hatte, kämpfte er für die Rettung der Puszcza gegen marktwirtschaftliche Interessen und persönliche Egoismen der einheimischen Bevölkerung. In den Kolumnen, die er für Zeitschriften wie „Czasopis“ oder „Dzikie Życie“ schrieb, stand immer der Einklang von Mensch und Natur im Vordergrund. Die kulturelle Vielschichtigkeit des polnisch-weißrussisch-ukrainischen Grenzlands war für ihn ein unglaublicher Gewinn. Janusz Korbel liebte die Natur, mit der er Tag für Tag lebte, und er engagierte sich für ein weltoffenes, modernes Polen ohne Vorurteile und Intoleranz. Ich hätte noch viele Fragen an diesen ungewöhnlichen Mann gehabt, aber am 7. August dieses Jahres ist er ganz plötzlich den Folgen eines Schlaganfalls erlegen. Ich glaube von ihm gelernt zu haben, dass man nicht immer laut sein muss, um gehört zu werden.

 

5.) Leopold Stanislaus Krzoska (1886-1968)

Hier liegt der Fall nun anders. Ich weiß eigentlich nichts über meinen Großvater. Wo sind seine Spuren in meinem Leben? Er wurde als fünftes von zwölf Kindern eines Bergmanns und Stahlbauers in Siemianowitz geboren. Sein ältester Bruder war nach Berlin gegangen, wo er sich als Kellner und Kurzzeitkneipier durchschlug, bevor sich seine Spuren verlieren. Leopold ging unter Tage, wie es in Oberschlesien üblich war. Bald aber wechselte er in die Zechenverwaltung. Irgendwann heiratete er, drei Töchter kamen zur Welt, dann der Stammhalter, mein Vater. Die oberschlesische Welt lief nach dem Ersten Weltkrieg Amok und irgendwann brach das Unglück über die Familie hinein. Die Mädchen starben alle kurz hintereinander: an einem Lungenleiden, einer Blinddarmentzündung und an Tuberkulose. Ihre Mutter überlebte sie nur kurz. Vater und Sohn entfremdeten sich, als Leopold eine neue Frau heiratete. Es kam der Krieg, mein Vater ging in die Wehrmacht, geriet in Gefangenschaft und blieb im Westen. Seine Heimat Oberschlesien sollte er nie wiedersehen. Mein Großvater dagegen blieb im nun kommunistischen Polen. Nur noch einmal sahen sich die beiden, Mitte der 1960er Jahre in Darmstadt. Auf seinen einzigen Enkel soll er mit reichlich Wodka angestoßen haben, ein Jahr nach dessen Geburt starb er während eines Urlaubs in Zakopane. Geblieben sind ein paar Fotos und eine Taschenuhr, die sein Vater 1915 „für treue Dienste“ von der Vereinigten Königs- und Laurahütte bekommen hatte. Was bleibt also außer ein paar Anekdoten und den Metadaten eines langen Lebens? Ich habe mich nie als Oberschlesier gefühlt, die kurzen Besuche dort waren eher von Fremdheit geprägt. Aber irgendwie habe ich den Verdacht, dass mir diese schlesischen Entdeckungen noch bevorstehen, auch ohne dass ich noch irgendwelche Unterlagen finden kann. Alle Verwandten sind tot und auch das Grab gibt es nicht mehr. Dennoch. Warum habe ich denn Polnisch gelernt, obwohl die Vergangenheit in der Familie praktisch kein Thema war, die Sprache komplett unterdrückt? In uns allen – und das muss ich als Historiker sagen – leben die Spuren der Geschichte weiter. Wir stehen nun mal auf den Schultern unserer Vorfahren, auch wenn es uns nicht bewusst ist. Und selbst wenn wir deren Leben nicht mehr rekonstruieren können, so bleibt etwas von ihnen in uns. Wir müssen es nicht wissen, aber es ist da. Und ich bin gespannt, ob jener Leopold Krzoska, dem ich mich merkwürdigerweise irgendwie nahe fühle, noch einmal Einfluss auf mich nehmen wird.

 

Gestatten Sie mir zum Schluss noch einige kurze Worte zu dem Land, das mich heute hier für mein Wirken ausgezeichnet hat. So ganz nebenbei ist Polen im letzten Vierteljahrhundert ein modernes Land geworden und hat eine Erfolgsgeschichte erlebt, wie sie im europäischen Kontext nach 1945 vielleicht nur Westdeutschland zuteil geworden war. Bei allen ungelösten Schwierigkeiten und Gefahren des Rückfalls in längst erledigt geglaubte Muster erlebt dieses Land momentan zweifellos die glücklichste Zeit seiner Geschichte der letzten zweihundert Jahre. Ich würde mir wünschen, dass die Polen dies stärker als bisher auch wahrnehmen und daraus ein größeres Selbstbewusstsein ziehen. Der Stolz auf das Vollbrachte ist das beste Heilmittel gegen Komplexe und der wirksamste Stoff gegen politische Rattenfänger. Ich bin froh, dass Polen auf einem solch guten Weg ist und dass man keine Pakete mehr dorthin schicken muss, sondern dass im Gegenteil so viele Polinnen und Polen uns Deutschen dabei helfen, dass manche Strukturen nicht zusammenbrechen. Froh sein, heißt natürlich nicht wunschlos glücklich. Wie schön wäre es, wenn es nicht ein solches Ausmaß an in der Öffentlichkeit ausgetragenen persönlichen Konflikten, eine solche Fixierung auf komplett unwichtige Themen und – das sage ich gerade vor dem Hintergrund dessen, welch leidvolle Erfahrungen Polen in den vergangenen Jahrhunderten weltweit als Emigranten und Flüchtlingen machen mussten – wenn es eine größere Solidarität mit den Millionen Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika geben würde, die ihr Leben jeden Tag aufs Spiel setzen, um sich vor den Verheerungen von Krieg und Terror nach Europa zu retten!

 

Quelle